24 Thesen zum
Lehrstück-Happening

von Tilman Aumüller, Jacob Bussmann, Bettina Földesi, Ruth Schmidt

erschienen 2015 in "Krieg", Mülheimer Fatzerbücher 4, Berlin 2016, S. 147‑156

LEHRSTÜCK - HAPPENING

1 Das Lehrstück-Happening ist die Verbindung von Lehrstück und Fluxusscore.

2 Das LEHRSTÜCK erzählt von einem Ereignis aus der Vergangenheit.
Der FLUXUSSCORE erzählt, als ob er ein Ereignis in der Zukunft produzierte.

3 Der Fluxusscore richtet sich an ein INDIVIDUUM, das ihn liest, ausführt oder imaginiert.
Das Lehrstück - Happening richtet sich an eine MASSE.

4 Die Imagination des Fluxusscores ist Privatbesitz des Imaginierenden, seine Produktion findet privat statt. Im Lehrstück - Happening werden PRODUKTION und IMAGINATION zwischen den Einzelnen geteilt.

ARBEIT 1: ARBEITSTEILUNG

5 Im Lehrstück-Happening steht es jedem*r frei, ob er*sie MITARBEITEN will. Aber niemand kann ZUSEHEN und genießen, wenn nicht jemand die Arbeit, die zu tun ist, tut.

6 Sobald ARBEIT organisiert werden muss, stellt sich eine TEILUNG der Gesellschaft ein. Hier entspricht die Organisation dem theatralen Dispositiv. Es gibt Anweisende, Ausführende und Zuschauende.

7 Das Lehrstück-Happening ist ein Mitmachstück. Aber das klassische Dispositiv des Theaters ist nicht aufgehoben: Man kann zwischen den Strukturpositionen des ANWEISENS, AUSFÜHRENS oder ZUSCHAUENS wechseln - ohne je Anweiser, Ausführer oder Zuschauer sein zu müssen.

8 Das Lehrstück-Happening sucht nach einem Theater für eine Gesellschaft, in der fixierte Trennungen sich zunehmend auflösen. Es ist ein Theater für Künstler*innen, für die es zunehmend eine Frage des Tages ist, an dem er*sie ins Theater geht, ob er*sie auf der Bühne steht oder auf die Bühne schaut. Das Lehrstück-Happening ist ein Theater für Spezialist*innen, die Dilettant*innen sind. Es gibt keine Unterscheidung zwischen professionellen Künstler*innen und freizeitenden Zuschauer*innen.

ARBEIT 2: WISSEN

9 Was für den Krieg gilt, in dem der Feldherr auf dem Hügel aus der Distanz anderes sieht und weiß, als der Kämpfende inmitten des Geschehens, gilt auch für die Arbeit und das Theater: An den verschiedenen Orten ist verschiedenes und spezifisches WISSEN und NICHTWISSEN. In diesem Sinne ist das Lehrstück-Happening ein Lehrstück über das Lehrstück.

10 Das verschiedene Wissen und Nichtwissen zwingt zur Kommunikation und zur Bewegung im Raum. Der AUSTAUSCH der Positionen, sowie der Austausch von Wissen gehören zum Stück.

ARBEIT 3: KRIEG

11 Krieg zeigt sich heute in Europa auch auf einem anderen Schauplatz als im Feld: in den veränderten Strukturen der Arbeit, die jede Person selbst verantwortlich macht für seine*ihre Erfolge, und sie darüber definiert; meine Schulden sind meine Schuld. Das Lehrstück-Happening sucht nach einem Theater für eine Gesellschaft, in der die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, Befehl und Gehorsam, verschwimmen. Das Lehrstück-Happening nutzt die Arbeitskraft der Besuchenden als Performer*innen und setzt auf deren Lust, mitzumachen und zuzusehen.

12 Ist DIY, ist Selbermachen eine befreiende Strategie der Selbstermächtigung oder Verstrickung im Privaten? Im Lehrstück-Happening gilt entfremdetes Arbeiten als Befreiung.

BUCH UND SCHRIFT

13 Wer ein BUCH lesen will, muss lesen was er sieht. Es muss akzeptiert werden, dass nach a b kommt. Die Anweisungen des Buches verlangen, getreu dem Buchstaben befolgt zu werden.

14 Das Buch vermittelt: Das Buch ist die LEHRE, die Lesenden sind die MASSE. Vor dem Buch als gemeinsamem Gegenstand sind alle Leser*innen gleich unwissend. Es nivelliert die Wissenshierarchien, aber es produziert die Teilung in Anweisende und Ausführende. Die Lehre sagt, es geht nur mit Gewalt.

15 Das Buch vermittelt: Im Buch kann man zurückblättern, im Theater nicht. Im Buch sprechen die Toten. Es lesen und verwirklichen die Lebenden. Zudem: Das Buch verbindet die ZEITEN der einzelnen Individuen in der Masse.

16 Das Buch muss auf der Bühne verwirklicht werden. Das bedeutet aber auch: Die Bühne ist zuerst als SCHRIFT zu fassen. Sie kann gesehen und gelesen werden.

GESTE

17 Das Lehrstück-Happening fordert keine Aufopferung, keine Lust, keine Identifikation mit einer Figur, einer Handlung, einer Haltung usw. Es fordert nur: Folge der Anweisung, "vollziehe die Geste“.

18 Gesten und Texte sind nach genauen Beschreibungen auszuführen und zu sprechen: dadurch bleiben sie in Distanz. Im Lehrstück-Happening gilt entfremdete Arbeit als Befreiung.

19 Gerade das lustlose Befolgen führt zur Lust an der Sache. Gerade das bloße Befolgen der Schrift führt transgressiv über sie hinaus.

20 Das Lehrstück-Happening glaubt an den Ernst des Komischen und Albernen, der im bloßen Befolgen der Anweisung, sowie im nochnichtverstehenden Tun liegt.

ALLEGORIEN / LAGEZEICHNUNG

21 Eine Zeichnung liegt in der Fläche und muss aus der Distanz und von oben betrachtet werden. Sie gleicht mehr der SCHRIFT als dem Bild; sie muss gesehen und gelesen werden.

22 UNSER ARM GEGEN UNS! versucht wie Fatzers Zeichnung auf der Tankwand eine ZEICHNUNG DER EIGENEN LAGE, in der die Mitmachenden auf sich selber blicken können.

23 Das Lehrstück-Happening beruht auf dem Zusammentreffen von Vertikale und Horizontale, von Schrift und Bild. Bewegen sich vertikale Körper über der Schrift, wird die Schrift lebendig und es entstehen ALLEGORIEN.

24 Zu viel Bedeutung ist das Prinzip der Allegorie. Ein Missverhältnis von Wissen und Nichtwissen zeichnet die Allegorie aus, ebenso wie es die Teilung in Anweisen, Ausführen und Zusehen auszeichnet. Das Erklären und Entziffern ist Teil des Spiels.
Das Lehrstück-Happening wendet sich gegen eine Kunst, die diese Unterscheidung überdeckt und eine Einheit suggeriert.